Tom Bell

City of Sun Ltd.

Sie stießen die Türe zum Dach auf und gingen auf den Taubenschlag zu. Über ihnen setzte ein Flugzeug zur Landung auf den nahe gelegenen Flughafen an, und als das Geräusch nachließ, blieben die vertrauten Geräusche aus. Sie blickten hin, schienen es aber nicht zu sehen. Die gesamte Population an Brieftauben lag tot vor ihnen, die mit Federn übersäte Gittertür demoliert daneben.

»Ein Raubvogel?«, spekulierte Ann ohne Nachzudenken. Troff nahm eine Taube in die Hand. »Ein Raubvogel, der Werkzeug benutzen kann?« Troff hielt ihr einen leblosen Vogel hin und spreizte den blutverschmierten Torso ein wenig. Ann entdeckte sofort den Datenzylinder, der wie ein Projektil in der Taube steckte. Sie streckte zwei Finger nach ihm aus, strich mit der behandschuhten Hand darüber und entzifferte die Prägung: PLAY ME.

Ann widerstand der Versuchung, den Datenzylinder sofort auszulesen. Hier in Sun-City haben die wenigsten Trixer eine mobile Quarantäne dabei, alleine der Besitz dieses Geräts hätte sie schon als Meritech-Mitarbeiterin verraten, geschweige denn, ihre Versiertheit im Umgang damit. Aber es gab noch einen anderen Grund: Sie war tatsächlich betroffen von dieser brutalen Demonstration von Macht, Frust, Gewalt und Hilflosigkeit. Meritech wusste bis vor ihrem Undercover-Einsatz noch nicht einmal, dass die Sun-Selectrixer vertrauliche Nachrichten per Brieftauben verschickten. Nun wussten sie dank ihres G-Implantats sogar, wo sich die Taubenschläge befanden. Sie fühlte sich mies. »Ich muss«, sagte sie zu Troff. »Ack«, erwiderte er, die Taube in der Hand, »ich mach das hier noch clean.«

Während sie sich über Rigger-Seile in die Häuserschlucht hinabließ, donnerte ein Zollhubschrauber nahe der Grenze vorbei. Sie dachte an ihren ersten Tag in Sun-City, eigentlich ein Standard-Einsatz. IGS, Industrie-Gegen-Spionage, hieß der entsprechende Credit, den sie noch brauchte, um eine Besoldungsstufe bei Meritech aufzusteigen. Eigentlich war Sun-City auch das perfekte Ziel, seitdem Sun-Oracle die Stadt aufgegeben hatte und sie in der Folge von einer Art Open-Science-Hippie-Kommune übernommen wurde. Was können diese paar Trixer schon gegen Meritech ausrichten? Eine ganze Menge wohl, fiel Ann ein, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Nicht nur Meritech, auch die anderen Konzerne der »MEGA-Vier« haben die noch verbliebenen staatlichen Gerichte unterschätzt. Sun-City war offiziell noch chinesisches Gebiet, eine Enklave inmitten der Sonderwirtschaftszonen von Meritech, Eudaemon, der Google-Group und natürlich Alibaba.

Ann machte einen kleinen Umweg, sie hatte keine Lust auf Diskussionen mit Perimeterpflichtigen, außerdem war sie gerade ohnehin in der Stimmung, sich ein wenig von der Architektur leiten zu lassen. Architektur. Sie musste schmunzeln, als sie an das Briefing für ihren momentanen Einsatz dachte. Was Vitruv noch die »Mutter aller Künste« nannte, ist hier Ausdruck der Natur, SC ist eine mit den Dwellern gewachsene Stadt. Sie erhebt sich auf einem künstlichen Hügel – aus Stadt. Seit dem Infocrash von '36 wuch die Stadt unablässig, nicht in der Fläche, da waren die Satellitenbetreiber pingelig, aber in Höhe und Population. Zumindest hatte das den Anschein, es gab keine offiziellen Zahlen. Ein Postpote schaute sie erschrocken an, weil sie plötzlich laut auflachte. Sie verbeugte sich kurz, der Postbote erwiderte den Gruß und wurde von einer Seitengasse verschluckt. Ann lachte über ihre Formulierung im Geiste: Offiziell. Offiziell klingt nach Staatlichkeit, und Staatlichkeit klingt nach einem Relikt von der Zeit vor den Verteilungskämpfen.

Der Spaziergang führte Ann am central hub vorbei, die dortigen e-Ink-Displays schalteten gerade in den Nachtmodus um. Ann sah die inzwischen vertrauten Umrisse des Tings, des Beratungsplatzes, der gleichsam aus der anarchistischen Architektur herausgeschnitten wurde. Jetzt, durch das Ereignis mit den Brieftauben verstört, begann sie, die Dinge um sie herum mit offenen, politischen Augen zu sehen. Kugelkopf war ein verdammter Zyniker, erinnerte sich Ann ihres Etagenleiters. Er wurde nicht nur wegen seines Äußeren so genannt, er besaß sogar eine alte Kugelkopf-Schreibmaschine von IBM. »Eure Namensgeberin«, pflegte er das Gerät zu nennen, wenn er ein paar Selectrixern mal wieder Geschichtsunterricht gab.

»Schulligung.« Ein kleiner Junge drängte sich an der Trixerin vorbei und nestelte mit einem selbstgebastelten Board herum. Ein Selectrixer, schoss es Ann durch den Kopf, mit wieviel Jahren? Fünf? Er schloss es an die blanken Leitungen an, die aus dem Port des bereits geschlossenen Literaturcafés hingen und beobachtete hypnotisiert das Blinken der OLEDs. Ein durchgängiges Leuchten zeigte wohl die erfolgreiche Übertragung an, denn der Junge kabelte sich wieder ab und hangelte sich zur zweiten Ebene hoch. Er verschwand an einer Stelle, die Ann nie und nimmer für einen Eingang zu Sup2 gehalten hätte. Durch die Scheibe sah sie eine riesige Espresso-Maschine und daneben ein kleines Datenzentrum, im typischen (weil markenrechtlich geschützten) Blau der WTO 4.0.

Der Minispace war fast leer, nur zwei Hologamer fläzten auf dem Sofa und nickten ihr kurz zu. In der Ecke erhob sich eine Venusfigur aus dem Becken des Stereo-Lithographen. Der Laser war schon wieder abgekühlt, die Figur aber noch nicht fertig. »Abgeschmiert«, sagte einer der Holo-Spieler. »Mal wieder«, ergänzte der andere. Ann wusste nicht, worauf sie sich bezogen, bei Gamern weiß man nie, wie viel sie von ihrer Umwelt mitbekommen. Sie schnappte sich eine Chipstüte. Die Striche hinter ihrem Nickname »NaN« waren voll gauß, sie würde ihre Schulden bei Gelegenheit begleichen. Über eine Strickleiter gelangte sie in den oberen Bereich des Minispaces. Am Türrahmen ihrer Schlafkoje hing ein Zettel: »@TiaTierra zum Vortrag überredet. Bis gleich?«

Ann Noels Tarnungs-Persona studiert »Neue Soziologie«, die von Sibylle Erdenreich quasi gegründet wurde. Natürlich musste die Studentin hin, obwohl die Trixerin sich lieber nur eingeklinkt hätte. Sie las die letzten Krümel von der Decke, tauschte die Akkus ihres Boards und versuchte, nicht in den winzigen Spiegel über dem Waschbecken zu sehen, als sie sich die Zähne putzte. Sie zog sich die Schuhe wieder an und bemerkte eine winzige Feder im Profil ihrer Stiefel. Sie klemmte die Feder in einen toten Datenport und blickte auf ihr Board. 17:53 Uhr. Das müsste sie schaffen. »Bin im Pub«, rief sie in den Raum hinein, die Hologamer hoben die Hand.

Ann musste einen Umweg nehmen, die 4x13er war gesperrt, weil eine Abwasserleitung gebrochen ist. Die Allmender der Woche sahen nicht glücklich aus, aber es gab schlimmeres. Die 5er war dementsprechend voller als sie ohnehin schon immer ist, die Kindertagesstätte machte gleich zu und der Fischbällchenladen auf. Schlecht geplant. Gar nicht geplant, korrigierte sie sich in Gedanken. Dieser Teil der City ist eben am saubersten, wenn man die allgegenwärtigen Ratten ignoriert.

Der »Pub« bestand aus dem Platz vor dem Tin-Hau-Tempel und den arrondierenden Häusern. Es wimmelte von Menschen, die an Improvisationstreffs, Musikerworkshops oder eben Vorlesungen teilnehmen wollten. Ann bemerkte die typischen Hand- und Kopfbewegung von Datenhehlern und Zigarettenschmugglern. Wo ein Trog ist...

Ann folgte ihren Kommilitonen in die siebte Etage und nahm an »ihrem« Tischstuhl Platz. Sie bemerkte, dass sie diesmal nicht die Älteste war. Es war eine Unterprima-Veranstaltung, und die Wissensvoraussetzungen dementsprechend hoch. Sie zählte elf ihr unbekannte Schüler, wobei vielleicht noch einige per Datenleitung mithörten. Tia Tierra nahm eine strenge Haltung ein und kniff ein E-Monokel ins rechte Auge. Ganz wie auf dem E-Flugblatt, dachte Ann amüsiert. Wiedererkennung ist Credit.

»Vielen Dank für die Einladung, vielen Dank, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Mein Handle ist TiaTierra, zusammengeschrieben, und man hat mir gesagt, dass hier auch ein paar Fachfremde im Publikum sitzen. Ich werde daher mit etwas Geschichte beginnen und entschuldige mich bei den NeuSoz-Studierenden, die das schon etliche Male gehört oder gelesen haben.«

Auf der e-INK-Tafel erschien ein grob gerastertes Bild von einer gewalttätigen Demonstration. »Die heutige Welt des Jahres 2053 unterscheidet sich radikal von der unserer Urgroßeltern. Wo einst mächtige Nationen um die globale Vorherrschaft stritten, existieren heute viele Sonderwirtschaftszonen. Die einst immense Autorität der Supermächte USA, Euro17, China und Brasilien ist an Konzerne übergegangen. Spitzenforschung findet hinter verschlossenen Türen statt, aber insgesamt ist die Weltbevölkerung aufgeklärt wie nie: Wir leben in einer Erwachten Welt voller ›Magic that works – Science‹.

Alles begann mit den Verteilungskämpfen um die Jahrtausendwende. Während Regierungen sich um die Nebenschauplätze ›Terrorismus‹ und ›Flüchtlinge‹ kümmerten, wollten die global agierenden Firmen ihr Schicksal nicht länger den in ihren Augen unfähigen Staatsdienern anvertrauen. Beginnend mit den Außenstandorten in Nicht-OECD-Ländern rüsteten die Konzerne auf und stellten private Söldner, die die Produktion sichern sollten. Im Digitalen fand längst ein Cyberkrieg statt, allerdings größtenteils unbemerkt; lediglich die Regierungsattacken wie Stuxnet wurden seit den Snowden-Leaks Anno 13 öffentlich diskutiert.

Auf dem amerikanischen Kontinent, in Afrika sowie in Asien gab es die berühmten Gerichtsurteile gegen, bzw. für Seretech. Wie ihr wisst, gab es bei einer Demonstration im Jahre 2020 mehrere Tote und Verletzte als Aktivisten auf das Firmengelände von Seretech einbrachen und von den Paramilitärs unter Beschuss genommen wurden. Im Seretech-Urteil von '21 bekräftigte das Gericht der Vereinigten Staaten, dass das Stand-Your-Ground-Gesetz und der zweite Zusatz zur amerikanischen Verfassung auch auf Firmen anzuwenden sei. Andere Gerichte folgten der Entscheidung entsprechend. In direkter Folge kann man das Shiawase-Urteil zwei Jahre später lesen, das die Extraterritorialität multinationaler Unternehmen fest im internationalen Recht verankerte.«

Während Frau Erdenreich vorn dozierte, ließ Ann ihre Gedanken schweifen. Sie kannte die Fakten nicht aus dem Studium –mangels Studium–, wohl aber aus den internen Briefings. Dort, im Seminarraum von Meritech hatte sie nie etwas dabei empfunden. Es mag am Ort liegen, aber hier, inmitten von gaußen Menschen – sie lachte innerlich auf. Ausgestoßene, Freaks, Pioniere, Künstler, wenn etwas ungauß ist, dann die Bevölkerung der Stadt. Sie machte sich ein paar Notizen für ihren Bericht und hörte erst wieder hin, als sie das Wort »Crash« erkannte.

»…liegen tiefer. Im Herbst '28 stellen Sony und RCA-Unisys ein Neuro-Interface vor, mit dem nicht nur Geräte ›telekinetisch‹, wie es die Werbung versprach, gesteuert werden konnten, sondern auch in besonderer Weise auf Informationen zugegriffen werden konnte. Das externe Gedächtnis und die interne Erinnerung sollten sich miteinander verweben.

Knapp acht Jahre später übernahm ein Schadprogramm zur gleichen Zeit mehrere voneinander getrennte Netze. Neben den Atomanlagen im Iran und der Cyberabwehrstation in den USA, waren vor allem die zahlreichen Trixer betroffen, die sich einen Port legen ließen. Nach vorsichtigen Schätzungen wurden über 200.000 Selectricser getötet, anderthalb Millionen trugen irreparable neuronale Schäden davon. Es gibt bis heute keine offizielle Erklärung dafür. Ich möchte Euch nun eine präsentieren, für die wir einige Beweise bereits besitzen, andere noch benötigen. Daher mache ich eine kurze Pause, um die Telestudenten einzuladen, persönlich zu erscheinen. Die Datenleitungen werden nun gekappt, wir machen in dreißig Minuten weiter.«

Sibylle Erdenreich nickte den versammelten Hörern zu und verschwand in der Unigender-Toilette. Sie sollte nie wieder auftauchen.